Alt, vorerkrankt, nicht immun als Stigmata – Humanistische Grundvereinbarungen in Gefahr?
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt(…). Diese Sätze sind Bestandteil der ersten beiden Artikel unseres Grundgesetzes. Sie sind gleichzeitig Grundlagen eines humanistischen Gesellschaftsbildes. Dies kommt mir aktuell oft in den Sinn, weil ich immer stärker das Gefühl habe, dass diese Grundsätze im aktuellen Diskurs zur Disposition gestellt werden und ich einen rasanten Paradigmenwechsel beobachte, auf den ich aufmerksam machen will.
Es trifft doch nur die Alten und Vorerkrankten…
Vorangestellt sei, dass das schlicht nicht stimmt, da bei Weitem nicht nur diese Personengruppen wegen dieses Virus sterben oder dauerhafte Gesundheitsschäden erleiden können und wir noch gar nicht wissen, welche (dauerhaften) Gesundheitsschäden das Virus auch bei einem leichten oder symptomfreien Verlauf anrichtet. Aber darauf will ich nicht hinaus. Ich will darauf hinweisen, dass in dieser Formulierung ein schwerwiegendes ethisches Problem steckt.
Ein Leben in Würde auch im Alter und bei Krankheit galt bisher als eine Grundvereinbarung in unserer Gesellschaft. Von Kant stammt die Erkenntnis: „Was einen Wert hat, hat auch einen Preis. Der Mensch aber hat keinen Wert, er hat Würde.“ Daraus folgt, dass Menschenleben weder qualifizierbar nicht quantifizierbar sind, oder anders: jedes Leben ist gleich wichtig und Menschenleben dürfen nicht gegeneinander aufgerechnet werden.
Mindestens im Diskurs (wenn auch nicht immer im Handeln) war bisher klar: Leben ist zu schützen. Punkt. Dafür nimmt die Gesellschaft – zu Recht – enorme Kosten im Renten-, Gesundheits- und Pflegesystem in Kauf (auch wenn hier aus linker Sicht sicher einiges zu kritisieren ist).
Und auch bei den Menschen, die an einer Krankheit leiden, war bisher klar: Es ist alles menschenmögliche zu tun, um diesen weiterhin ein Leben in Würde zu ermöglichen. Bis vor wenigen Wochen war der Begriff „Vorerkrankung“ vor allem ein medizinischer. Für medizinisches Personal ist bei einer Behandlung wichtig, wenn andere Erkrankungen vorliegen, um bei der Behandlung keine Fehler zu machen. Und so galt zum Schutz der Person besondere Sorgfalt bei der Behandlung an den Tag zu legen. Es war also ein Begriff der Fürsorge.
Das Virus hat uns vor Augen geführt, wie verletzlich wir sind. Es hat uns gezeigt, wie wichtig Solidarität gerade in Krisenzeiten ist. In den ersten Wochen der Kontaktsperren war ein großes Maß an Solidarität und Einsicht, dass es wichtig ist, alle Menschen so gut es geht zu schützen, zu verspüren. Durch die wiedererlangten Freiheiten der ersten Lockerungen werden im aktuellen Diskurs die beiden Begriffe – „alt“ und „vorerkrankt“ – jedoch zum Stigma.
„Es trifft doch nur die Alten und Vorerkrankten…“ bedeutet im Kern: Wir wollen keine oder weniger Einschränkungen, weil uns trifft es ja nicht. Und das ist genau der Punkt, wo eine Gesellschaft sich entscheiden muss. Müssen alle Restriktionen auf sich nehmen, um auch die Alten und Schwachen zu schützen oder ist deren Leben und deren Würde weniger wichtig als das der Jungen und Gesunden?
Der medizinische Fortschritt brachte es bisher mit sich, dass die 35-jähige Krebs-Patientin, ebenso ein langes und einschränkungsarmes Leben führen konnte, wie der Junge, der in den ersten Lebensjahren eine Niere transplantiert bekam. Auch der 76-jährige Mann, der nach einem Herzinfarkt wieder mit seiner Frau reisen konnte und die 42-jährige Diabetikerin, die zwar regelmäßig Insulin spritzen muss, aber ansonsten ein ganz normales Leben führt, sind Beispiele aus meinem privaten Umfeld für das, was nun im öffentlichen Diskurs als „vorerkrankt“ gilt. Und ab wann gilt man eigentlich als „alt“? Ab 60, 70 oder 80?
Wenn der Grundsatz gilt, dass jeder das Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit und auf ein Leben in Würde hat, dann ist es richtig, dass alles getan wird, um dieses Recht allen, auch denen, die nicht ganz gesund oder etwas älter sind, zu garantieren.
Besonders zynisch mutet dabei die Debatte an, man könne die „Alten“ und „Vorerkrankten“ isolieren, dann könnten alle anderen wieder wie vorher ihr Leben führen. Das kommt im ersten Moment fürsorglich daher. Wir schützen unsere Schwächsten. Doch im Kern würde es bedeuten, dass denjenigen, die nicht jung und gesund genug sind, weniger Würde, weniger Rechte und weniger Freiheiten zugestanden wird als allen anderen. Das ist nicht fürsorglich, das ist schlicht egoistisch. Und es bedeutet, dass für diejenigen das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (dauerhaft) ausgesetzt wird.
Immun oder nicht immun, das ist hier die Frage
Ich will auf einen zweiten Paradigmenwechsel hinweisen. Noch ist nicht klar, ob Menschen, die COVID19 überstanden haben, danach gegen den Erreger immun sind und wie lange. Dennoch hat der Diskurs begonnen, wie im Fall einer Immunität mit denen umzugehen ist, die nicht mehr an COVID erkranken können. In Frankreich wurde vorgeschlagen, diese könnten Armbänder erhalten, die signalisieren, dass von ihnen keine Gefahr ausgeht.
Und auch die Bundesregierung hat diese Debatte aufgenommen und einen Gesetzentwurf auf den Weg gebracht, der einen Immunitätsnachweis als Ergänzung zum Impfausweis vorsieht.
Im Wortlaut sähe das wie folgt aus:
„Änderung von § 28 Abs. 1 Satz 3 des Infektionsschutzgesetzes (Artikel 1 Nr. 20 Buchst. a):
- 28 wird wie folgt geändert:
- a) Absatz 1 Satz 3 werden die folgenden Sätze eingefügt:
„Bei der Anordnung und Durchführung von Schutzmaßnahmen nach den Sätzen 1 und 2 ist in angemessener Weise zu berücksichtigen, ob und inwieweit eine Person, die eine bestimmte übertragbare Krankheit, derentwegen die Schutzmaßnahmen getroffen werden, nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft wegen eines bestehenden Impfschutzes oder einer bestehenden Immunität nicht oder nicht mehr übertragen kann, von der Maßnahme ganz oder teilweise ausgenommen werden kann, ohne dass der Zweck der Maßnahme gefährdet wird. Soweit von individualbezogenen Maßnahmen abgesehen werden soll oder Ausnahmen allgemein vorgesehen werden, hat die betroffene Person durch eine Impf- oder Immunitätsdokumentation nach § 22 oder ein ärztliches Zeugnis nachzuweisen, dass sie die bestimmte übertragbare Krankheit nicht oder nicht mehr übertragen kann.“
In der Berichterstattung wird darauf verwiesen, dass dies nicht nur für COVID gelten soll sondern auch für andere Krankheiten. Die Anwendung für COVID sei sogar fraglich, weil nicht geklärt ist, ob und wie lange Immunität erlangt werden kann. Verwunderlich ist, dass diese Gesetzesänderung schon Mitte Mai vom Bundestag beschlossen werden soll. Dabei sind massive ethische Fragen mit einer solchen Änderung verbunden, die einer intensiven gesellschaftlichen Debatte bedürfen.
Erst einmal klingt es im Lichte der Corona-Pandemie super: So könnten für Menschen, die diesen Immunitätsnachweis haben, Restriktionen gelockert werden, sie könnten sich bspw. freier bewegen, müssten keinen Mundschutz tragen, Kontaktsperren würden nicht für sie gelten usw.
Was heißt das aber ganz praktisch? Es würde faktisch über Nacht eine neue Form von gesellschaftlicher Ungleichheit geschaffen. Diejenigen, die immun sind haben dann mehr Freiheiten, sie können von Kontaktbeschränkungen ausgenommen werden und sie haben deutlich bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Mit einem solchen Immunitätsnachweis wird eine Einteilung der Gesellschaft in „Immune“ und „Nicht-Immune“ festgeschrieben und der kapitalistischen Verwertungslogik unterworfen – mit allen Vorteilen für die „Immunen“ und allen Nachteilen für die „Nicht-Immunen“.
Das kann zu massiven gesellschaftlichen Veränderungen und sozialen Verwerfungen führen. Es kann sogar animieren, sich bewusst mit COVID19 anzustecken, um nach überstandener Erkrankung den Status der Immunität zu haben. Schlimmer noch: Menschen können sich gezwungen sehen, sich bewusst selbst zu verletzen und das Risiko eines schweren Verlaufs oder gar des Todes einzugehen, um wieder Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu haben. Und gleichzeitig gibt es Menschen, die diesen Status nicht erlangen können, weil eine Infektion für sie lebensgefährlich wäre. Damit wird das oben beschriebene Stigma der „Alten“ und „Vorerkrankten“ und die Ausgrenzung vulnerabler Gruppen dauerhaft manifestiert.
Nun kann man sagen, da noch nicht klar ist, ob COVID überhaupt Immunität auslöst und wenn ja, wie lange, male ich schwarz. Warum dann aber diese Gesetzesänderung? Und warum die Formulierung „bestimmte übertragbare Krankheit“? Nach Beschluss dieses Gesetzes ist dieser Passus auf jede irgendwie ansteckende Krankheit, nach deren Durchlaufen Immunität eintritt, ausweitbar.
Bereits jetzt ist es so, dass Immunität gegen bestimmte Krankheiten bei bestimmten Jobs oder auch bei den Masern bei Aufnahme in eine Einrichtung Voraussetzung ist, sofern eine Impfung gesundheitlich möglich ist. Das finde ich auch richtig, weil hier die Möglichkeit für fast alle gegeben ist, dass sie sich durch Impfung schützen können. Es ist also eine Frage des Wollens, ob man den Immunitätsstatus hat oder nicht. Und vor allem werden damit diejenigen, die aufgrund gesundheitlicher Risiken nicht geimpft werden dürfen, durch die sogenannte Herdenimmunität ebenfalls geschützt und – das ist in diesem Zusammenhang wichtig – ihnen entstehen durch den fehlenden Impfstatus keine Nachteile.
Die geplante Änderung zielt aber nicht auf den Schutz der vulnerablen Gruppen, im Gegenteil hat sie eine ganz andere Wirkung: Wer nicht immun ist, dessen Grundrechte können eingeschränkt werden und das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit gilt für sie – ggf. dauerhaft – nicht mehr.
Bei COVID und allen anderen Krankheiten, für die kein Impfstoff existiert, kommt noch etwas hinzu: Es ist keine Frage des Wollens, ob Immunität erlangt wird, weil nur das Durchlaufen der Krankheit die Immunität brächte.
Man kann allerdings einwenden, dass es für die Allgemeinheit Vorteile hat, wenn bekannt ist, wer immun ist und wer nicht, weil diese Personen dann gezielt in Bereichen eingesetzt werden können, in denen man mit der Krankheit in Berührung kommen kann und in denen ein hohes Infektionsrisiko besteht. Diesem Argument kann man wenig entgegen setzen, weil dies natürlich Leben schützen würde. Insofern halte ich es für denkbar, dass es im Gesundheitswesen Regelungen geben kann, die dafür sorgen, dass in Bereichen mit besonderer Ansteckungsgefahr für Patienten und Personal vorrangig Personen eingesetzt werden, die die Krankheit bereits durchlaufen haben.
Und was stattdessen?
Aber was wäre die Alternative zu den beschriebenAlten Szenarien? Klar ist, dass ein dauerhafter Lockdown die Gesellschaft und dieses Land ebenfalls kaputt macht und für viele Menschen massive soziale Nachteile bis hin zur Existenzzerstörung hätte und eine massive psychische Belastung darstellt. Das Herunterfahren nahezu aller Lebensbereiche war im ersten Schritt richtig, kann aber nicht von Dauer sein.
Aus meiner Sicht werden wir unser Zusammenleben neu organisieren müssen. Abstand, Hygiene, Mund-Nasen-Schutz in geschlossenen Räumen usw. werden unser Leben prägen und sind Ausdruck einer neuen Solidarität. Jeder schützt jeden durch verantwortungsvolles Handeln.
Das wird aber nicht ausreichen. Die wichtigste Maßnahme aus meiner Sicht ist konsequentes, regelmäßiges, kostenfreies Testen. Waren am Anfang nicht genügend Testkapazitäten vorhanden, werden sie aktuell nicht ausgenutzt. Neben der regelmäßigen Testung des medizinischen Personals ist es angezeigt, überall dort präventiv zu testen, wo viele Menschen regelmäßig zusammen kommen und Abstandsregeln nicht eingehalten werden können. Mindestens das Personal an Schulen und in KiTas muss regelmäßig präventiv getestet werden. Gleichzeitig muss eine COVID-Testung bei Erkältungssymptomen Standard werden. Verbunden mit einer konsequenten Kontaktverfolgung und Quarantänemaßnahmen für infizierte Menschen und deren Kontakte kostet das zwar viel Geld – für die Tests und für das zusätzlich benötigte Personal – das ist aber nur ein geringer Aufwand im Vergleich zum volkswirtschaftlichen Schaden, der durch einen Lockdown entsteht.
Gleichzeitig braucht es abgestimmte Mechanismen, wenn lokale Infektionscluster entstehen. Ein regionaler (auch teilweiser) Lockdown inkl. zeitlich beschränkter Kontaktsperren verbunden mit der Testung (eines großen Teils) der Gesamtbevölkerung eines Ortes kann Infektionsketten schnell unterbrechen. Das wäre natürlich in kleinen Orten einfacher als in Großstädten, es braucht unterschiedliche Lösungen für unterschiedliche Regionen.
Wenn man so einen Weg geht, müssen auch die staatlichen Strukturen angepasst werden. Es braucht schnell einsetzbares Personal, dass die lokalen Behörden unterstützt, wenn ein Infektionscluster auftritt. Der öffentliche Gesundheitsdienst muss dauerhaft gestärkt werden und es braucht angepasste Sozialleistungen und verbindliche Wirtschaftshilfen für den Fall eines (lokalen) Lockdowns. So etwas wird nur Akzeptanz in der Bevölkerung finden, wenn klar ist, dass dadurch keinem ein Nachteil entsteht.
Eine weitere Maßnahme ist die dauerhafte Stabilisierung des Gesundheitssystems. Gesundheit darf nicht mehr als Ware behandelt werden. Die Abhängigkeit von privaten Klinikkonzernen muss überwunden und leistungsfähige staatliche Gesundheitsstrukturen müssen aufgebaut werden. Auch dafür müssen neue Wege gegangen werden, die Gründung von Krankenhausgesellschaften auf Landesebene, unter deren Dach auch kommunale Kliniken versammelt werden können, kann ein Ansatzpunkt sein.
Weitere Maßnahmen sind aus meiner Sicht: das Vorhalten von Produktionskapazitäten für Schutzausrüstung und Desinfektionsmittel im Inland, verbindliche (und verschärfte) Hygienestandards in öffentlichen Einrichtungen, Einrichtungen mit Publikumsverkehr, in der Wirtschaft und im Handel, Ausbau der kostenfreien digitalen Infrastruktur in staatlicher Hand und die Anpassung der Sozialsysteme an die neue Situation.
Es wird sicher viele weitere Maßnahmen in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen geben müssen, die dafür sorgen, dass der Schutz der Bevölkerung in der neuen Situation gesichert ist. Diese Skizze zeigt aber, dass es Alternativen gibt zum vollständigen Lockdown einerseits und zur Ausgrenzung von Bevölkerungsgruppen aufgrund ihres Alters, ihrer Gesundheit oder ihres Immunitätsstatus andererseits.
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt(…). Auch in der Krise!
Eine gekürzte Fassung dieses Artikels ist als Gastbeitrag in der Tageszeitung neues deutschland erschienen.