Johlige fragt… Holger Geisler zur Situation der jesidischen Gemeinschaft

Am Scheideweg: Wie Jesiden mit sich selbst um ihre Zukunft ringen

Holger Geisler (Mitte) bei einer Pressekonferenz zur Lage in Afrin im März 2018.

 

Diejenigen fragen, die etwas Besonderes erlebt haben oder Expertinnen und Experten auf einem bestimmten Gebiet sind, finde ich wichtig. Um auch die Leserinnen und Leser dieser Seite daran teilhaben zu lassen, gibt es die Kategorie “Johlige fragt…”. Die Interviews, die hier erscheinen, können in der Regel auch für Publikationen oder Websites verwendet werden, aber fragt bitte vorher bei mir an!

Am Scheideweg: Wie Jesiden mit sich selbst um ihre Zukunft ringen

Herr Geisler, genau heute vor zwei Jahren hat der Landtag Brandenburg beschlossen, ein Sonder-Aufnahme-Programm für Jesidinnen aufzulegen. Die Vorbereitungen laufen, aus meiner Sicht, viel zu schleppend und noch immer sind keine Jesidinnen über das Programm nach Brandenburg gelangt. Um die Umsetzung des Beschlusses zu forcieren hat sich der Landtag danach mehrmals mit diesem Themenkomplex befasst (siehe hier und hier), Abgeordnete sind in den Irak gefahren, um sich vor Ort über die Situation der Jesiden zu informieren (hier und hier). Und gleichzeitig sind die Jesiden weiterhin in einer wirklich schwierigen Situation. Wie stellt sich aus Ihrer Sicht aktuell die Lage dar?

Den Charakter einer Gesellschaft erkennt man an ihrem Umgang mit den Schwächsten in ihrer Mitte. So gesehen war es eine wegweisende Entscheidung, die die Jesiden vor vier Jahren trafen, weil sie sie treffen mussten.

Die Barbaren des IS, selbsternannte Gotteskrieger, überfielen das Haupt-Siedlungsgebiet der Jesiden, töteten rund 10.000 Männer und ältere Frauen und entführten fast 8.000 Frauen und Kinder mit dem Ziel, die Jesiden auszurotten. Das gleichwohl einfache wie perfide Ziel des Genozid bestand darin, die Frauen im gebärfähigen Alter von der Gesellschaft zu trennen, so dass diese nicht mehr dauerhaft existieren kann. Schließlich sind die Jesiden mit ihrer über 4000-jährigen Tradition eine endogame Religionsgemeinschaft, die das Heiraten also nur innerhalb der Gruppe erlaubt. Als Jeside wird man geboren, man kann nicht hinein konvertieren, auch führt eine Eheschließung oder eine sexuelle Beziehung mit einem Andersgläubigen zum Ausschluss aus der Gemeinschaft. So wurde es seit Jahrhunderten gelehrt und gelebt und dafür gab es gute Gründe. Um überleben zu können in einer Welt des Nahen Ostens, die fast ausschließlich muslimisch geprägt ist, war dies ein einfacher Schutzmechanismus.

Der IS hat diesen Schutzmechanismus durch seine grausamen Verbrechen aufgebrochen. Deshalb entschied der „Heilige Rat“ der Jesiden, dass diese Frauen und Mädchen in die Mitte ihrer Gesellschaft gehören würde. Diese wichtige Botschaft gab den so geschundenen Seelen, die teilweise bis zu 40mal am Tag vergewaltigt, geschlagen und gedemütigt worden waren, neue Kraft.

Es gab Aufnahmeprogramme in Deutschland, um den jesidischen Frauen zu helfen. Auch Brandenburg will ein Programm starten, was aber noch immer nicht angelaufen ist. Wie sehen Sie das?

Als Baden Württemberg auf Initiative des Zentralrat der Yeziden in Deutschland (ZYD) 1.100 dieser Frauen und Kinder eine Aufnahme bot, eine sichere und neue Heimat, um vergessen zu können, war es die Segnung in der heiligen Pilgerstätte Lalis, die diesen Menschen neuen Lebensmut gab.

Weitere kleine Aufnahme-Programme in Niedersachsen und Schleswig-Holstein nährten zudem die Hoffnung, allen befreiten IS-Opfern, sexueller Gewalt eine Zukunft bieten zu können. Diese erfüllte sich bis heute nicht!
Keine weiteren 100 Plätze kamen durch diese Programme zu Stande. Ankündigungen von Brandenburg vor mehr als zwei Jahren sowie aktuell aus Berlin und Bremen kamen noch nicht zum Tragen. Selbst wenn, wäre es nur der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Noch immer leben mehr 2.000 der betroffenen Frauen im Dreck der Straßen Dohuks - ohne wirkliche psychologische Hilfe oder eine spezielle Betreuung. Diejenigen, die so Unglaubliches erleiden mussten, erfahren keinen besonderen Schutz, keine erhöhte Hilfe. Die jesidische Gemeinschaft, von der mehr als die Hälfte als Flüchtlinge in nicht wintertauglichen Camps lebt, kann diese Hilfe nicht leisten. Und die internationale Staatengemeinschaft, die sie leisten könnte, tut sie einfach nicht!

Es wäre also sehr wichtig, dass Brandenburg endlich mit der Aufnahme startet. Zumal es mittlerweile Berichte gibt, dass die Lage vor allem für Frauen, die Kinder aus der Gefangenschaft mitgebracht haben, immer schwieriger wird?

Genau. Wirklich dramatisch ist die Tatsache, dass die perfiden Überlegungen des IS doch noch Früchte tragen könnte. Denn viele der Frauen, die inzwischen befreit werden konnten, waren schwanger, brachten Kinder der IS Terroristen zur Welt. Etliche gaben diese Kinder weg, andere wollen sie behalten, da die Kinder ihnen Trost in schwerer Zeit gaben und noch immer geben. Doch das dürfte nicht so bleiben, da alle Seiten Druck auf die jungen Mütter ausüben. Die irakische und kurdische Regierung verweisen stumpf auf ihre Gesetze die besagen, dass diese Kinder durch den Vater Muslime seien. Möchten die Mütter Papiere für diese Kinder, dann werden auch sie zur Muslima erklärt, sind sie doch Mutter eines muslimischen Kindes.
Die internationale Staatengemeinschaft, die die Region finanziell stark unterstützt, schaut diesem Treiben hilflos zu. Hilflos wirken auch die Jesiden selbst, sehen sie sich doch außerstande zu erklären, welchen Status diese Kinder haben sollten. Rückendeckung erhielten die betroffenen Frauen von Hazim Beg, dem Sohn und Stellvertreter des weltlichen Oberhauptes der Jesiden. „Nur die Mütter können entscheiden, ob sie die Kinder behalten wollen“, erklärte er. Auch seine Frau Mayan streitet für die geschundenen Seelen, setzt sich in öffentlichen Debatten leidenschaftlich für sie ein. Das religiöse Oberhaupt, der Baba Sheikh, unterstützt Bemühungen für einen besonders geschützten Bereich für diese Menschen. Sie alle können aber nicht erklären, ob die Mütter weiter Jesidinnen sind und was aus den Kindern später werden soll.

Und nun? Was heißt das für die jesidische Gemeinschaft? Und wie geht es jetzt mit den Frauen und Kindern weiter?

Bevor wir jetzt die Stimme erheben und belehrende Kommentare abgeben, sollten wir kurz innehalten. Wäre es bei uns so viel einfacher, haben unsere Großeltern ganz anders agiert bei den Kindern aus Vergewaltigungen im Zweiten Weltkrieg? Gab es nicht ganz ähnliche Entwicklungen bei den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien oder vielen afrikanischen Auseinandersetzungen?

Können Menschen, die ein derartiges Trauma erleiden mussten („Erst konnten sie ihre Frauen und Kinder nicht beschützen, heute können sie ihre eigene Gesellschaft nicht ernähren“) solche Entscheidungen mal eben so treffen? Ist es überhaupt möglich, sich damit zu beschäftigen, angesichts der vielen Frauen, die noch immer in Gefangenschaft sind? Was haben diese wohl bei der Befreiung der einstigen IS-Hochburg Raqqa gedacht? Die Stadt wurde befreit, doch die Terroristen durften nicht nur unkontrolliert abziehen, sondern nahmen auch noch vielen jesidische Frauen und Kinder mit. Die Botschaft, die sich in deren Köpfen festgesetzt haben dürfte, ist klar: Wir werden nicht befreit, nicht einmal, wenn die USA, die Iraker und die Kurden den IS schon besiegt haben! Welche weiteren seelischen Verletzungen dürften diese Wahrnehmung nach sich ziehen?

Kann man kluge, weise und richtige Entscheidungen treffen, im fünften Winter in nicht wintertauglichen Zelten? Können Menschen frei entscheiden, die nicht genug zu essen, keine passende Kleidung für die drohende Kälte und kein Gas zum Heizen haben? Wollen wir, die wir mit demokratischen Werten in einer freien Welt aufwuchsen, wirklich den Stab über diese Menschen brechen und damit, wenn auch unbeabsichtigt, die IS-Ziele zur Vernichtung dieses friedliebenden Volkes unterstützen?

Es ist leicht, diese Menschen zu verurteilen. Es überfordert aber, mit diesen Frauen zu sprechen, und ihre Hoffnungen zu erleben, die dann doch einer großen Enttäuschung weichen. Und es ist fast unmöglich, sachlich mit ihren Sorgen und Nöten umzugehen!

Das klingt nicht sehr hoffnungsvoll. Was raten Sie?

Wahrscheinlich bleibt mein Appell bei denen, die wenigstens Linderung verschaffen könnten, ungehört. Gebt diesen Frauen, diesen Kindern eine Zukunft in einem westlichen Land. Vieles wird die Zeit richten. Sorgt dafür, dass die Genozid-Opfer eines ganzen Volkes endlich wieder menschenwürdig leben können - nicht mit Almosen, sondern mit einer Zukunft, die sich selbst aufbauen und gestalten können.

Und so schließe ich mit einer ganz einfachen Frage, die nicht von mir, sondern der Friedensnobelpreisträgerin Nadia Murad und Sacharow-Preisträgerin Lamia Baschar stammt: Wenn Baden Württemberg 1.100 Frauen und Kinder aufnehmen konnte, warum kann Deutschland, warum nicht die EU die anderen so geschundenen 6.000 Seelen aufnehmen? Diese Frage zu beantworten oder besser, die Aufnahme auch umzusetzen, wäre so viel wichtiger als der erhobene, moralische Zeigefinger.

Vergangenen Freitag begingen die Jesiden einen ihrer wichtigsten Feiertage. Bleibt zu hoffen, dass es nicht einer der letzten Ehrentage dieser uralten Religion gewesen sein wird und sie auch künftig noch als Glaubensgemeinschaft viele Feiertage werden erleben können.

Herr Geisler, ich danke Ihnen für dieses Gespräch!

Holger Geisler (54) arbeitete als freier Journalist, ehe er mit Beginn des Genozid an den Jesiden einer ihrer wenigen Fürsprecher wurde. Er initiierte, als Sprecher des “Zentralrat der Yeziden (ZYD)“, die Sonder-Aufnahme-Programme in Baden Württemberg und Niedersachsen, berät immer wieder politische Parteien und Regierungen in diesem Problemfeld. Derzeit arbeitet er als Geschäftsführer bei „Ezidxan Aid International e.V“, einer NGO, die sowohl in den Krisengebieten der Welt als auch in Deutschland aktiv ist.